Notizen aus dem Eis 135 | Die Diamanten des Recherchebreen

02. Juli 2025

Polarkolumne von Birgit Lutz



Notizen aus dem Eis 135 | Die Diamanten des Recherchebreen

Der Bellsund ist einer der südlichsten Fjorde von Spitzbergen. In ihm gibt es unzählige wundervolle Orte, an denen man staunen kann.

Einer davon ist für mich der Recherchebreen, im gleichnamigen Recherchefjorden gelegen, einem südlichen Ausläufer des Bellsunds. Die Landung dort mag ich deswegen so gerne, weil sie anfangs ganz unspektakulär ist, sich dann aber zu einem wunderbaren Erlebnis aufbaut. Am besten geht man dort in einiger Entfernung, vielleicht sogar um die Kurve bei Asbestodden an Land, wo einst, Überraschung, Asbest abgebaut wurde. Das heißt, es wurde versucht, glücklos allerdings. Von den Versuchen sieht man nun nur noch rostige Reste. Von dort wandert man über die sanfte Tundra, auf der Rentiere vor sich hinäsen, hinüber in Richtung Gletscher.

Der Recherchebreen ist etwa 16 Kilometer lang, in den Recherchefjorden endet er zwischen zwei Bergen, den Observatoriefjellet und den Martinfjella; er ist ein breiter, flacher Eisstrom, der sich hier ins Wasser ergießt. Wenn wir von der Tundra zum Strand hinuntersteigen, breitet sich vor uns eine weite, ebene Sandfläche aus, die sich quer über den ganzen Fjord zieht. Wir marschieren über diese Sandfläche, in die das Wasser und der Wind Kanäle und Sastrugi gefräst haben. Manchmal ganz hart, manchmal ganz weich ist der Untergrund hier.

Wir gehen auf eine sandige Erhebung zu, die uns den Blick auf den Gletscher noch eine ganze Weile versperrt. Doch nach einiger Zeit ist es so weit: Wir erreichen das Ende der sandigen Ebene, steigen auf einen der kleinen Hügel – und staunen. Vor uns liegt eine Lagune, in der Eisbröckchen und kleine Eisberge schwimmen. Keine Welle ist hier zu sehen, im graublautürkisen Wasser spiegeln sich die umliegenden Berge. Dahinter die Gletscherwand.

Direkt vor uns, an dem kleinen Sandstrand, liegen Eisbrocken auf dem Sand, hingeworfen wie Salzkörner aus einer Riesenhand. Oder Diamanten, andernorts gibt es doch die berühmten Diamond Beaches. Ein passender Name, denn sie glitzern und gleißen, reflektieren und glänzen tatsächlich wie enorme Diamanten, die Eisberglein vor uns.

Still stehen wir hier und saugen dieses Bild in uns auf. Der Himmel, so blau, das Eis, der Sand, alle Farben sind so kräftig. Der Recherchebreen hat sich in den zurückliegenden Jahren enorm verändert, mal ist er zurückgewichen, mal wieder nach vorne gestoßen, wie das Gletscher in Spitzbergen häufig tun, surge nennt man dieses Vorstoßen. Es gibt eine wissenschaftliche Arbeit zum Recherchebreen, sie ist hier zu finden:
communications earth & environment Article

https://doi.org/10.1038/s43247-024-01877-8

Diesen Link anzuklicken lohnt sich, die Studie ist auf englisch, aber wer nicht alles lesen will: Es sind tolle Luftaufnahmen darin, die den Gletscherzustand seit 1936 (!) dokumentieren, eine wirklich sehenswerte Angelegenheit. Man erkennt dann auch, wie der Gletscher hier die Landschaft formt.

Wir steigen von dem Hügel hinab auf den Sandstrand, zu den Diamanten. Man muss sie mal anfassen, sie sind kalt, glitschig und hart. Auf einige kann man sich hindrapieren, was ein gutes Fotomotiv ist. Wir streichen mit den Händen über das Eis, das nicht mehr lange Eis sein wird, sondern beständig vor sich hintröpfelt und schmilzt. Wir halten einen Moment Stille und lauschen diesem Schmelzen, hören dahinter das Flüstern des Eises, das noch im Wasser liegt, das leise Knallen und Knistern, wenn Luftblasen darin ins Freie entlassen werden.

Wir blicken zum Gletscher, und wenn ich frage, wie weit er denn entfernt ist, schätzen die Gäste immer viel zu wenig. Es sind mehrere Kilometer, je nach Jahr, in dem man fragt. Das erkennt man, wenn man durchs Fernglas schaut und darin winzige weiße Vögelchen vor der Gletscherkante fliegen sieht, die in echt nicht winzig sind, sondern Eis – oder Dreizehenmöwen. Dann erahnt man: Das ist alles ganz schön weit weg.

Es ist ein Ort, ein einsamer Ort, an dem man Stunden und Tage einfach nur sitzen und sein könnte. Eines jener kleinen, großen Wunder dieser Inseln.

Die Sandebene, auf der wir stehen, schließt die Lagune nicht völlig ab, es gibt einen Durchlass. Durch diesen fließt das Wasser bei Ebbe aus, bei Flut ein. Ich rufe unsere Boote, die bald kommen, uns zu holen. In ihnen umkreisen wir sanft und leise einige der Eisberglein, bevor wir uns von der Strömung durch den Kanal nach draußen spülen lassen.

Den Frieden dieses Orts nehmen wir in uns mit, und ein paar Fotos, sonst nichts.
Trotzdem sind wir so viel reicher.

Wir lesen uns im August!

Polare Grüße,
Eure
Birgit Lutz


Birgit Lutz, eine preisgekrönte Autorin und ehemalige SZ-Journalistin, ist Expeditionsleiterin und gefragte Rednerin.
Ihre Polarkolumne erscheint einmal pro Monat auf unserer Homepage.



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